Totaler Bildschirm, Widerstand gegen die Verwaltung und Informatisierung unserer Leben, 2016

Seit 2011 widersetzen sich in Frankreich Schaf- und Ziegenzüchter*innen der europäischen Richtlinie, die ihnen vorschreibt, elektronische Chips an den Ohren ihrer Tiere anzubringen. Sie weigern sich, ihre Herde per Computer managen zu müssen und sich den Erfordernissen der industriellen Produktion, wie etwa der Rückverfolgbarkeit, anzupassen. Sie organisieren sich mit Kolleg*innen, Nachbar*innen und befreundeten Personen, um den Kontrollen der Behörden kollektiv zu begegnen und die finanziellen Sanktionen, die ihnen auferlegt werden, gemeinsam zu bewältigen.

Zwischen 2011 und 2013 haben einige Sozialarbeiter*innen die in Frankreich erforderliche jährliche Übermittlung von Statistiken boykottiert. Diese dienen nicht nur der Bewertung ihrer Arbeit, sondern auch der Erhebung zusätzlicher vertraulicher Daten über ihre Klient*innen. Sie machen damit auf die Sinnlosigkeit der Informationstechnologie in den Beziehungen zwischen ihnen und den Klient*innen aufmerksam und prangern das Ziel der Behörden an, diese Meldepflicht in ihrem Beruf zu verankern. Sie wehren sich dagegen, dass sie auf individuelle Situationen mit standardisierten Aktionen innerhalb einer begrenzten Zeit reagieren müssen.

Schon in den Zweitausender Jahren hatten sich Schuldirektor*innen sowie Eltern* gegen die Erhebung persönlicher Daten von allen Schulkindern mittels des Software-Programms „Base-élèves“ (dt.: Schulkinder-Datenbank) gewehrt. Ende 2015 haben sich Beschäftigte an staatlichen Schulen im „Appel de Beauchastel“ (dt.: Aufruf von Beauchastel) öffentlich gegen die Informatisierung der Schule ausgesprochen. Sie weigern sich, ihre Lehrtätigkeit auf eine computergestützte Pädagogik zu reduzieren, die alleine dazu dient, die Jugend auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten.

Um Widerstände wie diese miteinander zu verknüpfen, entstand 2013 ein Netzwerk mit dem Namen „Écran total“ (dt.: totaler Bildschirm). Es vereint Personen aus ganz Frankreich, die in ganz unterschiedlichen Berufsfeldern wie Viehzucht, Gemüsebau, Bildungswesen, Sozialarbeit, Medizin, Buchgewerbe, Bäcker- und Schreinerhandwerk tätig sind, sowie Menschen, die arbeitslos sind, Sozialhilfe beziehen oder keinen Beruf ausüben. Wir haben unsere Lebenssituationen miteinander verglichen und festgestellt, dass überall ein- und dieselbe Logik am Werk ist: Die Informationstechnologie und as Management zerstören unsere Berufe und beeinträchtigen die sozialen Beziehungen. Wir wehren uns gemeinsam dagegen und rufen alle diejenigen, die die gleiche Erfahrung machen, dazu auf, sich Écran total anzuschließen.

Wir kritisieren den zunehmenden Einfluss der Verwaltungslogiken. Egal, ob sie sich als technische Innovation, als wissenschaftlich-rationale Arbeitsorganisation oder als Management ausgeben – diese Machtformen sind ein Angriff auf unsere Würde und führen dazu, dass wir in Konkurrenz zueinander treten. Wir müssen zusehen, wie die wenigen Freiheitsräume nach und nach verschwinden, in denen wir den Erfordernissen der Rentabilität entfliehen können. Dem vorherrschenden Diskurs zufolge handelt es sich dabei um einen Fortschritt. Aber für die Menschen, die wir noch immer sind, entbindet uns dieser Prozess nicht von der Mühsal der Arbeit, sondern führt zu einer fortschreitenden Entfremdung.

Was tut uns die Informationstechnologie eigentlich an? Sie zielt darauf ab, unsere produktive Zeit zu optimieren, und soll uns angeblich das Leben leichter machen. Doch in Wahrheit stiehlt sie den Arbeitern durch die Vervielfältigung der Verwaltungsaufgaben Zeit und Aufmerksamkeit. Erst zwingt sie uns, Daten zu erfassen. Dann erstellt sie Statistiken und Algorithmen, mit denen sie die Arbeit gliedert, standardisiert und kontrolliert. Das ist computergestützter Taylorismus. Fachwissen wird

monopolisiert und die Aktivitäten der einzelnen Berufe werden reduziert zum schieren, mechanischen Anwenden von Protokollen, welche Expert*innen in die Software eingebettet haben. Was nicht genannt oder quantifiziert werden kann, verschwindet: Der Raum für Sensibilität, für Eigenartigkeit und für direkten Kontakt wird immer enger, obwohl diese Aspekte in der Bildung, der Betreuung, der Landwirtschaft, dem Handwerk usw. von wesentlicher Bedeutung sind. Die permanente Messung unserer Leistungen stellt uns schlussendlich vor eine grausame Wahl: dem Druck standhalten oder ausgestoßen werden. Oft geschieht beides. Während die Fabriken schließen, macht sich das industrielle Modell sogar in den am weitesten davon entfernten Bereichen mit seiner ganzen Absurdität und Gewalt breit.

Über die Arbeit hinaus wird unser gesamtes Privat- und Alltagsleben in Mitleidenschaft gezogen:

Seine Unberechenbarkeit geht verloren. In der Verwaltung, den öffentlichen Diensten, den Transportmitteln, als Ausländer*innen, Schüler*innen, Patient*innen oder Kund*innen werden wir auf nachverfolgbare, überwachte und digitalisierte Datenflüsse reduziert. Maschinen werden zu unseren einzigen Ansprechpartnern. Die überall integrierten elektronischen Vorrichtungen verdecken die Machtverhältnisse durch eine scheinbare Objektivität. Die Begeisterung für den Bildschirm schafft eine Welt, in der sich alles abflacht, beschleunigt und zerstreut. Die Informationsübersättigung beeinträchtigt unser Denken und die Kommunikationsmedien hindern uns am Sprechen. Autonomie ermöglichende Fertigkeiten samt der Zeit, die notwendig ist, um sich diese anzueignen, müssen in einem täglichen Kampf verteidigt werden. Die angebliche Entmaterialisierung besiegelt in Wahrheit die Übernutzung der Ressourcen: Seltene Erden und Kunststoffbestandteile in den Computern, überhitzte Data Center, enorme Kabelgeflechte usw. – all das wird von den Knechten der industriellen Welt hergestellt und landet zum Schluss auf den Müllhalden der Südhalbkugel.

Écran total hat sich bereits mehrere Male ein Wochenende lang in der Stadt oder auf dem Land versammelt. Die Begegnungen dienten dem Austausch über die Verschlechterung unserer Berufssituationen und über Konflikte, die wir bei der Arbeit sowie im Kontakt mit Behörden erleben. Während sich die einen abmühen, ihrem Beruf einen Sinn abzutrotzen, selbst wenn sie sich nicht in ihm wiederfinden, wollen die anderen ihren Kampf von ihrem Beruf loslösen: Sie kündigen und schlagen einen Querweg ein. In diesem Fall kann die Arbeitslosigkeit ein Mittel sein, außerhalb der Kategorien von Produktion und Lohnarbeit nachzudenken und zu handeln. Wir sind mit Écran total das Sprachrohr für diese Konflikte und Werdegänge, mit dem Ziel, aus der Isolation und der Hilflosigkeit auszubrechen, in der die Verwaltung uns gefangen halten möchte. Ausgehend von der Analyse des Erlebten konstruieren wir eine gemeinsame politische Sprache und denken uns neue Kampfweisen und andere Formen der Arbeit aus.

In diesem Sinne stellen wir eine Problematik ins Zentrum unseres Vorhabens, die bis heute nicht kollektiv angegangen worden ist, und fragen uns, welche Rolle Arbeit spielt und was ihr Inhalt ist. So ist es uns beispielsweise wichtig, beurteilen zu können, ob gewisse Berufe sinnlos oder gar schädlich sind und welches menschliche Leid sie zur Folge haben. Wir stellen fest, dass die Gewerkschaften es aufgegeben haben, dies zu tun. In den meisten Fällen beschränken sie sich lediglich darauf, in korporatistischer Art und Weise Arbeitsplätze zu verteidigen und sich für die Wahrung von Arbeitsstatus und -bedingungen einzusetzen, ohne den Sinn der Produkte und Tätigkeiten, für die die Arbeiter*innen bezahlt werden, in Frage zu stellen. So werden sie zu Mitverwalter*innen der gesellschaftlichen Organisation, die die Übel, die sie eigentlich bekämpfen wollen, erst hervorrufen.

Im Rahmen des Kampfes gegen die elektronische Kennzeichnung der Nutztiere konnten einige Bauernhöfe, die in Höhe von mehreren tausend Euro sanktioniert worden waren, auf die Solidarität Hunderter Personen zählen: Sie organisierten Soli-Konzerte und Diskussionen, schickten den Züchter*innen und Züchtern Geld, versandten Protestbriefe an die Verwaltungs-behörden, die sie auch besetzten, und bereiteten den Kontrolleur*innen auf den Höfen einen lauten Empfang. So ist es den Gegner*innen der elektronischen Tierkennzeichnung bis heute gelungen, ihre Position zu halten.

Wir wollen uns bei unseren Kämpfen weiterhin gegenseitig unterstützen, indem wir für gemeinsame Entscheidungen eintreten und unsere öffentlichen Aktionen koordinieren: Gemeinsam ungehorsam sein, Sanktionen kollektiv entgegentreten und materielle und menschliche Unterstützung zwischen den verschiedenen Berufen und Regionen möglich machen.

Darüber hinaus wollen wir Autonomie zurückerlangen, unsere Bedürfnisse neu herausfinden und uns fachliche Fertigkeiten wiederaneignen. Kurz gesagt wollen wir über die Art und Weise, wie wir bestimmte Tätigkeiten ausüben, sowie über den Sinn dieser Tätigkeiten und auch unseres Lebens, selbst entscheiden.

Diese Ziele und Praxen möchten wir gerne im Rahmen von Écran total mit Euch teilen und vertiefen.

Kontaktadresse:
Faut Pas Pucer, Le Batz,
F-81140 St-Michel-de-Vax, Frankreich
oder: <ecrantotal {at} riseup.net>

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PDF format :
Platteform Totaler Bildschirm

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